Anmerkungen zur derzeitigen Sektendiskussion in
Österreich
http://www.kult-co-tirol.at/text/anal_w06.htm
Dr. Peter Schulte kult &
co - Informations- und Beratungsstelle des Landes Tirol zu religiösen und
weltanschaulichen Fragen
Erwartungshaltung an Sektenbeauftragte
Von einem Behindertenbeauftragten wird erwartet, dass er sich
für die Belange von behinderten Menschen einsetzt, von einem Ausländerbeauftragten wird
die Unterstützung für die Integration von Ausländern verlangt, eine Frauenbeauftragte
setzt sich für die Anliegen von Frauen ein. Doch was wird eigentlich von einem
"Sektenbeauftragten" erwartet, welcher im Auftrag einer Bundes- bzw.
Landesregierung tätig ist? Diese Frage ist schwierig zu beantworten, weil staatliche
Initiativen relativ neu sind und eine Schärfung des Profils von der vorzufindenden
gesellschaftlichen als auch individuellen Problemkonstellation abhängig ist. In
Österreich gibt es derzeit die Bundesstelle für Sektenfragen in Wien sowie die
Landesstellen in Tirol, in der Steiermark sowie in Ober- und Niederösterreich. Hier steht
die Information und Beratung im Vordergrund und der ratsuchende Bürger darf sich eine
Antwort auf konkrete Fragen erhoffen.
Meiner Erfahrung nach wird von Sektenbeauftragten erwartet, dass sie sich kritisch mit
sogenannten Sekten auseinandersetzen. Dies bedeutet in der Regel, dunkle Schatten ihrer
Religiosität und Spiritualität herauszufiltern, Kenntnis über dessen Interaktions- und
Kommunikationsstruktur zu besitzen und dieses Wissen öffentlich weitergeben zu können.
Diese Sichtweise wird oft mit dem Begriff der Prävention verbunden, wobei das know how um
den eventuell vorhandenen destruktiven Charakter einer neureligiösen Bewegung, den
größtmöglichen Schutz vor persönlichen Schädigungen bieten soll. Obwohl bis heute
widersprüchliche Aussagen über die tatsächlichen Gefährdungspotenziale vorliegen, so
ist doch zu beobachten, dass nach wie vor ein negatives Bild von "Sekten" in der
Öffentlichkeit existiert und immer wieder neu generiert wird. Leider haben in der
Vergangenheit auch einige eifrige "Sektenexperten", welche neue religiöse
Bewegungen grundsätzlich als destruktiv abqualifizierten, ihren Beitrag dazu geleistet.
Kritik an einer pauschalen Dämonisierung von neuen
religiösen Bewegungen ist unerwünscht
Staatliche "Sektenberatungsstellen", welche aufgrund
ihrer institutionellen Struktur keinen religiösen Charakter aufweisen, können einen
konfliktentschärfenden Beitrag leisten. Voraussetzung dafür ist die Erkenntnis, dass es
sich bei Konflikten in Zusammenhang mit "Sekten" auch um Fragen der Konkurrenz
mit traditionellen Kirchen handelt. Darüber hinaus kann sich ein gesellschaftlicher
Wandlungsprozeß in einem pluralistischen Religionsangebot äußern, welcher durch Angebot
und Nachfrage bestimmt wird. Die Möglichkeit der Wahl bietet für manche Menschen die
Chance, andere Formen von Religiosität und Spiritualität auszuprobieren und auch zu
leben.
Dennoch erzeugt eine solche Sichtweise Aufregung bei denjenigen, welche durch das
Aufkommen von "Sekten" ihre traditionelle Religiosität gefährdet sehen. Obwohl
es meiner Meinung nach keinen Grund für diese Verlustängste gibt, so ist zu beobachten,
dass alternative Religiosität häufig mit der "Sektenkeule" bearbeitet wird.
Waren es in der Vergangenheit die sogenannten Jugendreligionen überwiegend fernöstlicher
Herkunft, welcher dieser zum Opfer fielen, so ist heutzutage eine gewisse Beliebigkeit
festzustellen. Nicht selten werden harmlose Meditationskurse zu sektenähnlichen
Veranstaltungen degradiert, Tantrakurse zu sexuellen Orgien, Wohngemeinschaften mit
spirituellem Einschlag zu Tarnorganisationen von "Sekten" und die am Dorfplatz
versammelte und schwarz gekleidete Jugend zu blutrünstigen Satanisten. Allzu gern werden
solche Klischees von sensationsgierigen Medien aufgegriffen und wirkungsvoll in der
Öffentlichkeit verbreitet, diesen allein die Schuld für die Instrumentalisierung von
Subkulturen zu geben, ist allerdings zu einfach.
Neue Religiosität und Spiritualität muß ernst genommen werden, um Antworten nach den
Ursachen dieser Entwicklung zu erhalten. Diese könnten im außerordentlichen Maße eine
seriöse Berichterstattung unterstützen. Es geht nicht darum, Probleme zu verharmlosen,
sondern es geht um die teilweise pauschale Dämonisierung neuer religiöser und
weltanschaulicher Gemeinschaften. Kritik an solch einer Informationspolitik zu üben und
die (oft alleinige) Definitionsmacht einiger "Sektenexperten" zu hinterfragen
ist unerwünscht. In diesem Fall ist der Vorwurf zu hören, mit sogenannten Sekten zu
kollaborieren und sich für deren Interessen instrumentalisieren zu lassen. Dabei sollte
die Anhörung der Mitglieder eine Selbstverständlichkeit sein, weil sie einen wichtigen
Bestandteil für eine faire und ausgewogene Informationsarbeit der
"Sektenberater" bilden können. Leider ist das nicht immer der Fall. Die
Ausgrenzung dieser Menschen widerspricht ethischen Vorstellungen über Toleranz und
Akzeptanz neuer religiöser Gemeinschaften.
Das Feindbild - die "Sekten"
Es ist im Jahre 2002 zu bemängeln, dass staatliche
"Sekteninitiativen" bisher kaum in der Lage waren, Konflikte im Zusammenhang mit
sogenannten Sekten in angemessener Weise zu entschärfen und zu dessen Beseitigung
beizutragen. Dies zeigt sich besonders darin, dass in der Öffentlichkeit nach wie vor der
Eindruck herrscht, dass "Sekten" grundsätzlich gefährlich sind. Obwohl einige
staatliche und auch kirchliche Beratungsstellen vor einer pauschalen Dämonisierung warnen
und eine differenzierte Betrachtungsweise fordern, so ist doch zu beobachten, dass einige
Mitglieder harmloser Gemeinschaften (aber als "Sekten" bezeichnet) beklagen,
dass sie die Folgen einer einseitigen Informationspolitik deutlich spüren. Feindbilder
werden schnell dadurch erzeugt, indem ein Einzelschicksal verallgemeinert wird.
Besonders die medialen Darstellungen von Aussteigern erzeugen in der Öffentlichkeit ein
Bild von psychischer Verwüstung und Zerstörung. Alles haben sie gegeben und nichts
dafür bekommen, mißbraucht und ausgenutzt, die Familie zerstört, wirtschaftlich am
Boden und ohne Zukunftsperspektive - daneben der Guru, lächelnd, freundlich und sich
keiner Schuld bewußt. Die Schuldigen sind schnell benannt und der Ruf nach öffentlicher
Bestrafung wird laut. An den Pranger mit ihnen, den geheimen Verführern! Ursache und
Wirkung sind schnell ausgemacht, hier die Täter, da das Opfer. Das ein Aussteiger sich
vielleicht auch einmal wohl in einer neuen religiösen Bewegung gefühlt hat, sei hier nur
am Rande erwähnt.
Das Verständnis liegt im Verhältnis Individuum und Gruppe
Wer generell "Sekten" dämonisiert und einer
althergebrachten Theorie der "Seelenfängerei" nachläuft, begibt sich auf sehr
dünnes Eis. Niemand - selbst Mitglieder sogenannter Sekten - würde in Abrede stellen,
dass es vereinzelt Fälle von Autoritätsmißbrauch und psychischer Manipulation gegeben
hat. Und fairerweise sollte hinzugefügt werden, dass solche Fälle auch in traditionellen
Kirchen vorkommen. Nur ist jeder Fall einzeln zu betrachten und genau zu analysieren. Die
Erfahrung zeigt, dass solche Konstellationen in der Regel weniger mit Formen von
Religiosität zu tun haben, als vielmehr ein Ausdruck des Verhältnisses von Individuum
und Gruppe sind.
Soziologen gehen davon aus, dass von Gruppen normative Signale an die Mitglieder
ausgesendet werden. Sie haben somit regulative Wirkungen auf den Einzelnen und können
unter Umständen auch eine Verhaltensänderung zur Folge haben. Dieses Verhalten wurde in
unterschiedlichen Situationen untersucht und war abhängig von der individuellen
Disposition, d.h. der Persönlichkeitseigenschaft des Einzelnen. Ist diese sehr stark auf
die Gruppe bezogen, so ist zu erwarten, dass hohe Ansprüche an die Gruppenführung
gestellt werden, weil diese im besonderen Maße die Ziele repräsentieren. Kommt es zu
einer Diskrepanz zwischen Erwartungshaltung, persönlichen Einsatz und einer damit
gewünschten Belohnung, z.B. in Form von sozialer Anerkennung und Aufstieg in der
Gruppenhierarchie, so kann ein ungewolltes Frustrationserlebnis die Folge sein.
Diese negativen Erlebnisse können sich in Form von Ausstieg, Ablehnung und Herabsetzung
der entsprechenden Gruppe oder dessen Repräsentanten äußern. Würden die Ursachen
individuellen Leids ausschließlich den "Sekten" zugeordnet, wäre eine
systematische Analyse sinnlos. Vielmehr gilt es, Verallgemeinerungen ein wirksames
aufklärerisches Instrument entgegenzusetzen. Hier könnte wissenschaftliche Forschung
einen wichtigen Beitrag leisten.
Was sagt uns die Forschung über sogenannte Sekten?
Die Forschung erhebt für sich den Anspruch, möglichst objektiv
und nachvollziehbar allgemeingültige Aussagen über ihren Forschungsgegenstand zu
treffen. Dies kann sie unter Zuhilfenahme standardisierter Methoden und Instrumente,
welche unter Wissenschaftern eine gewisse Seriosität besitzen. In Österreich besteht ein
großes Defizit an Forschungsarbeiten zum Thema der sogenannten Sekten. Diplomarbeiten und
Dissertationen gibt es einige, welche aber weitestgehend unbekannt sind.
Klassische österreichische Studien wie die kritische "Wiener Studie" sind in
Vergessenheit geraten. In dieser wurde unter anderem gefordert, dass bei der Darstellung
von "Sekten" die eigene (religiöse) Standortbestimmung erkennbar sein sollte.
Ein wichtiges Signal sind die Forschungsergebnisse der vom Deutschen Bundestag ins Leben
gerufenen Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" aus dem Jahr
1998. Diese erteilen einer in der Öffentlichkeit verbreiteten Destruktivität von
"Sekten" eine deutliche Absage. Dass "Sekten" für ihre Umwelt
schädlich sind, ist demzufolge schlichtweg falsch.
Deutlich wurde auch, dass "Sekten" meist unter dem Aspekt ihrer Destruktivität
analysiert wurden und dass die Frage außer acht gelassen wurde, ob die Mitgliedschaft in
einer neuen religiösen Bewegung nicht auch positive Gewinne zur Folge haben könnte.
Dennoch gibt es gesellschaftspolitische Konfliktpotenziale, die durch das Aufkommen neuer
religiöser Bewegungen mit verursacht worden sind, wobei dadurch resultierende
Einzelschicksale durchaus ernst genommen werden müssen, aber nicht als repräsentativ
für die gesamte religiöse Gemeinschaft gelten sollten. Die Enquete-Kommission regte u.a.
an, dass der Staat und somit auch seine von ihm ins Leben gerufenen
"Sektenberatungsstellen" in Zukunft eine konfliktentschärfende Funktion
einnehmen sollten.
Fazit und Ausblick
Wünschenswert wäre ein sachlicher und verantwortungsbewußter
Umgang mit dem Phänomen der neuen Religiosität und Spiritualität. Hier könnten
staatliche "Sektenberatungsstellen" positive Signale aussenden, indem sie
Konfliktpotenziale thematisieren und unter Beibeziehung aller Konfliktparteien
Diskussionsforen bilden, welche zur öffentlichen Bewußtseinsbildung beitragen könnten.
Gleichzeitig gilt es, diejenigen zu betreuen und zu unterstützen, welche sich in einem
persönlichen Konflikt mit einer religiöser Gemeinschaft befinden. Dies sind nach meinen
Erfahrungen häufig Angehörige von Mitgliedern sogenannter Sekten, welche dessen Beitritt
natürlich als persönlichen Verlust empfinden und nicht wissen, wie sie mit dieser neuen
und oft auch konfliktbesetzten Situation umgehen sollen. Hier sind erste Initiativen
seitens des Staates zu beobachten, z.B. in der Bereitstellung finanzieller Mittel durch
das Bundesministerium für Soziale Sicherheit und Generationen, welche es
Familienberatungsstellen in allen Bundesländern ermöglicht, psychologische Beratung und
Begleitung in Zusammenhang mit neuen religiösen Bewegungen anzubieten. Dies ist ein guter
und richtungsweisender Ansatz, welcher durch weitere Maßnahmen ergänzt werden könnte.
Wünschenswert wäre die Bereitstellung zusätzlicher Ressourcen, welche in
verantwortungsvoller Weise dem Phänomen der neuen Religiosität entsprechen. Hierzu
gehört die Förderung von Forschungsarbeiten, welche sich mit dieser Thematik
auseinandersetzen und zusätzliche Expertise einbringen, die Regelung der gewerblichen
Lebenshilfe, welche rechtliche Rahmenbedingungen sowohl auf Anbieter- als auch
Verbraucherseite schafft und letztendlich eine klare Haltung des Staates, welche
unmißverständlich darlegt, welche Sichtweise dieser über neue religiöse Bewegungen und
spirituelle Sonder-gemeinschaften zu pflegen gedenkt. Die von der ehemaligen
Sozialministerin Sickl angekündigte Bildung einer interministeriellen Arbeitsgruppe unter
Einbeziehung der Ländervertreter ist ein weiterer wichtiger Schritt, welcher die
politische Meinungsbildung unterstützen könnte.
Dass sich der Staat mit dem Phänomen der neuen Religiosität schwer tut, zeigt sich in
der 1998 vom ehemaligen Bundesministerium für Umwelt, Jugend und Familie aufgelegten
Broschüre "Sekten - Wissen schützt". Obwohl einleitend eine Auflistung sowohl
gesetzlich anerkannter Kirchen als auch der durch das Bekenntnisgemeinschaftengesetz von
1998 anerkannten Bekenntnisgemeinschaften erfolgt, so bleibt doch für mich die Frage
offen, ob es ausreichend ist, die im Anschluß exemplarisch ausgewählten
"Sekten" unter dem Aspekt der Prävention abzuhandeln. Hier würde ich mir als
Leser wünschen, dass die eventuellen Gefahren konkretisiert und auch mit Beispielen
untermauert werden. Leider bleibt für mich nur der Eindruck zurück, dass all diejenigen
religiösen Gruppen, welche keine staatliche Anerkennung genießen, mit Vorsicht zu
genießen sind.
Wird in so einem Fall nicht eine Unterscheidung in Gut und Böse vorgenommen, welche
manchen "Sekten" unterstellt wird? Und letztendlich, gibt es nicht auch
sektenähnliche Züge in traditionellen Kirchen, die ähnlich gelagert und zu betrachten
sind? Es ist zugegebenermaßen unbequem und oft auch schmerzhaft solche Fragen zu stellen,
aber es ist genauso schmerzhaft zu sehen, wie aufrichtige und rechtschaffene Menschen,
welche ihren persönlichen Weg religiöser Entfaltung suchen, nicht ernst genommen und
unter dem Vorwurf der psychischen Manipulation als "Irrläufer" abqualifiziert
werden.
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© Dr. Peter Schulte kult & co tirol (
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