P r e s s e e r k l ä r u n g
28. Mai 1998
Beteiligt sich der deutsche Staat an der Diffamierung und Diskriminierung von religiösen und weltanschaulichen Minderheiten?
Eine Offene Gesellschaft braucht keine Weltanschauungskontrolle
Der Staat ist in einer Offenen Gesellschaft kein Emanzipations-Nachhilfeinstitut. Er kann dem Bürger um seiner Freiheit willen nicht alle Lebensrisiken abnehmen wollen. Demgegenüber neigen Eiferer zu Regelungs-Exzessen und tendieren zu einer Welterklärung im Gut-Böse-Schema. Um nicht unterderhand Rufmordkampagnen, Gesinnungsschnüffelei und weltanschaulich-ethischer Repression Raum zu geben, ist im Blick auf die Beurteilung anderer ein hohes Maß an Toleranz, Sensibilität und Vorsicht sowie die strikte Einhaltung von Rechtsgrundsätzen nötig.
Berufliche oder soziale Anforderungen veranlassen immer mehr Menschen, Fortbildungsangebote zur Erlangung von "Stressstabilität", "Konfliktbewältigungskompetenz" und "Leistungsoptimierung" in Anspruch zu nehmen. Nach alternativem Lebenssinn Suchende schließen sich einer der neuen Religionsgemeinschaften an, weil sie deren Heilslehren für ihr Leben als hilfreicher und sinnerfüllender begreifen als das, was ihnen traditionelle Religionen bieten. Es ist unvermeidlich, dass auf beiden Feldern auch Scharlatane Chancen suchen und finden. Darum mag es sein, dass für die Sicherung von Konsumenten-Schutzansprüchen ein neues Gesetz erforderlich ist. Es ist wahr: Der Mensch kann sich durch zu hohe Leistungsansprüche oder durch religiöses Heilsverlangen selbst zugrunde richten. Schaden können ihm freilich auch Tendenzen zur Unterforderung, traditionelle Erziehungsziele und etablierte Religionen. Insofern befinden sich alle Anbieter von Lebenshilfen wie auch die Repräsentanten von Religionen in einer grundsätzlich ähnlichen Situation.
Im Frühjahr 1996 hat der Deutsche Bundestag eine Enquete-Kommission zu "Sog. Sekten und Psychogruppen" eingesetzt. Die Zusammensetzung dieser Kommission, ihr Zwischenbericht vom Sommer 1997 und die Begleitumstände ihrer Arbeit lassen befürchten, dass der für Juni 1998 angekündigte Abschlußbericht der Bundesrepublik Deutschland schweren Schaden zufügen wird. Wir appellieren an die Verantwortlichen, nicht zuzulassen, dass der verschiedentlich geäußerte Eindruck unserer europäischen und amerikanischen Freunde sich bestätigt, der deutsche Staat beteilige sich wiederum an der Diffamierung und Diskriminierung von religiösen und weltanschaulichen Minderheiten.
1. Zu den sachverständigen Mitgliedern der Enquete-Kommission gehören Sekten- und Weltanschauungsbeauftragte der beiden Amtskirchen, nicht aber Sachverständige anderer Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und keine Repräsentanten des heftig kritisierten freien Fortbildungsmarktes und Management-Trainings. Die Sektenbeauftragten der protestantischen Amtskirche haben jetzt die Möglichkeit, mit über jene zu befinden, die in weltanschaulicher Konkurrenz zu ihnen stehen und mit denen sie seit Jahren vor deutschen Gerichten prozessieren. Leider muss mit einer doppelten Befangenheitsvermutung eines Teils der Mitglieder der Enquete-Kommission gerechnet werden: Sie sind Agenten der konkurrierenden Religionsgesellschaften und sie befinden sich seit Jahren in prozessualen Auseinandersetzungen mit jenen, über deren Tätigkeit sie nun mit urteilen sollen.
2. Die Sekten- und Weltanschauungsbeauftragten der beiden Amtskirchen haben eine kirchliche Schatten-Kommission gebildet, die je nach Bedarf vor oder nach den Sitzungen der offiziellen Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages die dortigen Themen vor- bzw. nachbereitet. In diesem "Kirchlichen Arbeitskreis zur Begleitung der Enquete-Kommission" arbeiten auch Mitglieder der offiziellen Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages mit. Diese Konstruktion tangiert die Unabhängigkeit der Parlaments-Kommission. Sie verstärkt noch einmal den Einfluss der Großkirchen und verfestigt die in einem weltanschaulich neutralen Staat unsachgemäße "Hierarchisierung" von Religionen. Es darf in den Augen des Staates nicht "bessere" und "schlechtere" Religionen geben.
3. Im Umfeld der Enquete-Kommission arbeiten Journalisten, die sich aus ideellen und/oder materiellen Gründen auf Sekten- und Psychogruppenjagden spezialisiert haben. Sie geben vor deutschen Gerichten an, durch Mitglieder der Enquete-Kommission Berichte über Zeugenaussagen aus nichtöffentlichen Sitzungen der Enquete-Kommission erhalten zu haben. Die Vorsitzende der Enquete-Kommission sieht keine Möglichkeit, Indiskretionen des Gremiums zu ahnden. Vermutlich wäre es auch lebensfremd, auf eine strikte Einhaltung der Vertraulichkeit dringen zu wollen. Umgekehrt gibt aber die Enquete-Kommission den Beklagten nicht die Möglichkeit, sich vor diesem Gremium zu äußern. Die Beschuldigten erfahren - im Gegensatz zu den Journalisten im Dunstkreis der Kommission - nicht einmal, dass, geschweige denn in welcher Weise über sie Klage geführt wurde.
4. Im Zwischenbericht der Enquete-Kommission wird zwar versichert, es gehe um die Klärung und Konkretisierung von Vorwürfen. Aber an die Öffentlichkeit gedrungene, ungeprüfte Verdächtigungen sowie deren Verbreitung, Vergröberung und Verallgemeinerung wirken sich für soziale Dienstleister geschäftsschädigend aus und führen zur Verächtlichmachung von kleinen religiösen Gruppierungen. Solche Auswirkungen sind inakzeptabel.
5. Holen die betroffenen Organisationen juristische, psychologisch/psychiatrische, soziologische oder religionswissenschaftliche Gutachten unabhängiger Wissenschaftler ein, werden deren Ergebnisse zumeist ignoriert und die Gutachter als befangen marginalisiert. Damit laufen die Eigeninitiativen der Betroffenen zur Rechenschaftsablage über ihre Arbeitsweisen und Methoden ins Leere.
6. Die Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages haben eine große Tradition und vielfach beachtliche Ergebnisse vorlegen können. Das galt auch dann, wenn sie - entgegen geltendem Parlamentsrecht - nicht nur rechtlich relevante Informationen beschafften und Handlungsempfehlungen gaben, sondern darüber hinaus einen Auftrag zu Forschungen, Meinungen und Analysen erhielten. Die Geschichte der Enquete-Kommissionen und die Ausweitung ihres Kompetenzrahmens beinhalten eine hohe Verpflichtung. Auch der Einsetzungsbeschluss des Deutschen Bundestages für die Enquete-Kommission zu "Sog. Sekten und Psychogruppen" vom 9.5.1996 erteilte einen Auftrag, der weit über den rechtlichen Rahmen hinausgeht. Er richtet sich darauf, "Informationen über neuere religiöse und weltanschauliche Bewegungen einzuholen, zu bündeln und aufzuarbeiten, sowie den gesellschaftlichen Hintergrund der Entstehung und Ausbreitung zu analysieren". Leider wird von vornherein unterstellt, dass von den "Sog. Psychogruppen und Sekten" Gefahren ausgehen, anstatt zu fragen, ob und welche Gefahren von welchen Gruppen ausgehen und aus welchen Tatsachen sich das ergibt.
7. Da sich der Auftrag der Enquete-Kommission nicht auf rechtswidriges Handeln, sondern mit hoher Unbestimmtheit auf "neue religiöse und weltanschauliche Bewegungen" bezieht, sieht sich das Gremium ermächtigt, ihn immer weiter auszudehnen. Im Zwischenbericht heißt es: "Das Spektrum der Gruppierungen umfasst heute sinnstiftende Angebote oder Heilslehren religiöser, weltanschaulicher, philosophischer, politischer, psychologischer und pädagogischer Art." Selbst randkirchliche Sondergruppen "pfingstlerischer, charismatischer und endzeitlicher Prägung" sind von der Kommissionsarbeit betroffen. Das Problematische an solchen Gruppen ist für die Enquete-Kommission, ihrem Zwischenbericht zufolge, nicht, daß sie etwa Rechtswidrigkeiten begingen, sondern dass sie oder ihre Mitglieder mit ihrer Umwelt "in Konflikt" geraten können. Die Kommission meint: "Die Konfliktlagen ... zu beurteilen, ist eine zentrale Aufgabe der Enquete-Kommission". Außer Betracht bleibt, wie die "Konflikte" oft genug entstehen. Wenn die "uneinsichtigen" Angegriffenen sich gegen rufschädigende Medienkampagnen mit Ehrenschutzklagen gerichtlich zur Wehr setzen, gehen die Ankläger meist kein Risiko ein. Die Prozeßkosten der Sektenbeauftragten beispielsweise werden aus Kirchensteuermitteln bestritten. Spezielle Anwaltskanzleien überprüfen die Kampagnentexte, damit sie im Rahmen der Meinungs- und Pressefreiheit gerade noch bestehen können.
8. Der Zwischenbericht der Enquete-Kommission legt Zeugnis von der weltanschaulichen und gesellschaftspolitischen Voreingenommenheit mancher seiner Verfasser ab. Bei einem an der Religionssoziologie orientierten Sektenbegriff müßte sich ein Teil der Mitglieder der Enquete-Kommission selber für befangen erklären, weil sie nach diesen Kriterien selbst als Mitglieder von "Sekten" gelten. In diesem Gremium haben allerdings die Repräsentanten von "Bündnis 90/Die Grünen" einen klaren Kopf behalten und an ihre Bürgerrechtstradition angeknüpft. Ihr Sondervotum zum Zwischenbericht betont, "... daß nach bisherigen Ergebnissen der Kommissionsarbeit keine Tatsachen bekannt sind, die es rechtfertigen würden, in religiösen und weltanschaulichen Minderheiten generell eine Gefahr für Individuen, Gesellschaft und Staat zu sehen". Die der Enquete-Kommission aus den Niederlanden zugegangene Expertise gelangt zu einem ganz ähnlichen Urteil.
9. Wir haben eine Auswahl der besonders inkriminierten Gruppen angehört, ihre Überzeugungen wie ihre Arbeitsweisen studiert und die von Kolleginnen und Kollegen angefertigten Gutachten gelesen. Hierzu gehörten insbesondere Vertreter des freien Fortbildungsmarktes und Management-Trainings, die allesamt von der Enquete-Kommission nicht angehört wurden, obwohl einzelne Mitglieder der Kommission einen erbitterten Kampf gegen sie führen. In keinem Falle konnten wir Hinweise auf Personen, Gruppen oder Organisationen schädigende Handlungen feststellen. Ebensowenig war freilich durchgängig die Wirksamkeit der Helfer-Interventionen nachweisbar, wenngleich wir auch viel Nützliches notieren konnten. Dieses Ergebnis schließt nicht aus, dass Personen durch Handlungen oder Ratschläge solcher Lebenssinn und Lebenshilfe anbietenden Gruppen zu Schaden kommen können. Aber auch der Rat eines Freundes, der Angehörigen, eines Lehrers oder Pfarrers im vorprofessionellen pschohygienischen Raum kann - in bester Absicht erteilt - ebenfalls fehlindiziert sein. Es ist zu bedenken, dass Personen, die beratende Hilfen in Anspruch nehmen, unter erheblichen psychischen, sozialen oder medizinischen Störungen leiden können. Solche Störungen werden meist verschwiegen und sind für den Berater nicht immer sofort ersichtlich. Nur wenn offenkundig unterlassene Hilfeleistung vorliegt, kann man den jeweiligen Helfer zur Verantwortung ziehen. Es wäre lebensfremd, wenn man von jeder ratgebenden Person im religiösen oder psychosozialen Setting eine universitäre und Postgraduierten-Ausbildung in Medizin und Psychologie verlangen wollte - was bekanntlich im Einzelfall Schädigungen auch nicht ausschließt. Auf der anderen Seite kann es Lebenshilfen geben, die tatsächlich hilfreich sind, aber einer wissenschaftsdogmatischen Überprüfung kaum standhalten dürften.
Mit "Scientology" haben wir uns ausdrücklich nicht befasst, weil die einseitige Thematisierung dieser Gruppe offensichtlich die Funktion erfüllt, als eine Art "Dosenöffner" für den Gesamtbereich der "Sog. Sekten und Psychogruppen" zu dienen.
10. Wir bitten die deutsche Bevölkerung, sich weder von neuen geistigen Monopol- und Kontrollansprüchen beeindrucken, noch von der Ketzerhysterie der Sektenjäger anstecken zu lassen und sich nicht an der Verteufelung von Minderheiten zu beteiligen oder andere zu denunzieren, weil sie die Veranstaltungen dieser oder jener Gruppe besuchen. Die Sektenjagd lebt von der in der Öffentlichkeit erzeugten Vorstellung, sie schütze den Bürger vor unheimlichen Bedrohungen. In Wahrheit bedroht die inquisitorische Arbeit der Sektenjäger die Religions- und Gewissensfreiheit in einer offenen Gesellschaft. Diese Bedrohung ist nicht durch sprachkosmetische Maßnahmen wie die Eliminierung des Sektenbegriffs zu beseitigen. Vielmehr muß die multikulturelle, -konfessionelle und -weltanschauliche Entwicklung in unserer Gesellschaft akzeptiert werden. Die in Mode stehenden Sektenjagden bieten mehr Anlass zu staatsbürgerlicher Sorge als die große Mehrzahl der "Sog. Sekten und Psychogruppen".
Bundesminister a. D. Prof. Dr. Hans Apel (Hamburg/Rostock), Prof. Dr. Dr. Gerhard Besier (Heidelberg/München), Prof. Dr. Niels Birbaumer (Tübingen/Padua), Prof. Dr. Martin Kriele (Köln), Prof. Dr. Hermann Lübbe (Zürich), Prof. Dr. Erwin K. Scheuch (Köln).